
Seit über 1.000 Tagen führt Russland Krieg gegen die Ukraine. Präsident Wladimir Putin hat wiederholt gewarnt, dass Katastrophen – möglicherweise auch nukleare – drohen, wenn die westlichen Verbündeten Kiews die Ukraine mit den notwendigen Waffen zur Selbstverteidigung ausstatten und den Krieg „eskalieren“. Diese Bedrohungen haben sich in diesem Monat verstärkt, nachdem die Biden-Administration Kiew schließlich die Genehmigung gegeben hat, amerikanische Langstreckenwaffen gegen Ziele tief in Russland zu verwenden.
Putins Drohungen und ihre Folgen
Im Gegenzug hat Putin Russlands nukleare Doktrin aktualisiert und einen neuen nuklearfähigen ballistischen Raketen auf die Ukraine abgefeuert. Diese Botschaft richtete sich klar an die Unterstützer der Ukraine: Testet uns nicht. Doch trotz dieser alarmierenden Entwicklungen, glauben Analysten, dass sich die Geschehnisse fast drei Jahre nach Kriegsbeginn in einem gewohnten Rhythmus abspielen.
Die Reaktion des Westens auf ukrainische Anfragen
Jedes Mal, wenn die Ukraine um Hilfe bat – zunächst für Panzer, dann Kampfflugzeuge, Clusterbomben sowie Langstreckenwaffen – zögerten die Verbündeten, diese zu gewähren, aus Angst, dies könnte den Konflikt eskalieren und eine russische Reaktion provozieren. Doch jedes Mal, wenn der Westen schließlich den Forderungen der Ukraine nachgab, blieben die katastrophalsten Drohungen Russlands aus. Das, was eine Woche lang tabu war, wurde in der nächsten zur Normalität.
Kontrollstrategien des Kremls
Trotz der verschärften Drohungen Putins glauben Analysten, dass sich die Situation nicht grundlegend ändern wird. Sie weisen darauf hin, dass die besorgte Reaktion auf die neu gewährten Kräfte der Ukraine ein weiteres Beispiel für die erfolgreiche Strategie des Kremls ist, den Westen dazu zu bringen, den Konflikt aus russischen Perspektiven zu betrachten. Das führt dazu, dass jeder neue Versuch der Ukraine, sich gegen die russische Aggression zu wehren, als eine grundlegende „Eskalation“ wahrgenommen wird.
Das Institute for the Study of War (ISW) erklärte in einem Bericht, dass der Kreml versucht, den Westen dazu zu bringen, in einer „alternativen Realität“ Entscheidungen zu treffen, die Russland im „realen“ Geschehen Vorteile verschaffen. Kateryna Stepanenko, Mitautorin des Berichts, bezeichnete diese Strategie als eine Wiederbelebung des sowjetischen Konzepts der „reflexiven Kontrolle“, durch die ein Staat seinem Gegner eine falsche Wahl aufzwingt, die dessen Interessen zuwiderläuft.
Die Reaktion auf Russlands Aggression
Die anhaltenden Debatten und Verzögerungen in der westlichen Militärhilfe für die Ukraine sind ein deutliches Beispiel für die erfolgreiche Kontrolle durch den Kreml, sagte Stepanenko. Ihrer Meinung nach hat der Kreml den Westen zur Selbstabschreckung gebracht, trotz regelmäßiger russischer Eskalationen im Krieg.
Diese Strategie war auch am Donnerstag zu beobachten, als Russland einen großangelegten Angriff auf das ukrainische Stromnetz startete. Putin bezeichnete den Angriff als „Antwort unserer Seite“ auf die Entscheidung der Biden-Administration, Langstreckenwaffen zu liefern, wobei Russland in der Vergangenheit oft keinen Vorwand für solche Angriffe benötigte.
Politische Entscheidungen und deren Folgen
Die kürzlichen politischen Veränderungen der westlichen Verbündeten der Ukraine – welche nach dem Einbezug von rund 11.000 nordkoreanischen Truppen in die russischen Militäranstrengungen geschahen – stellten keine Eskalation dar, wie der Kreml sie darstellt, so Stepanenko. „Russland hat einen unprovozierten Vollkrieg gegen die Ukraine gestartet und eskaliert den Konflikt regelmäßig, um die Initiative auf dem Schlachtfeld zu behalten“, erklärte sie.
Die Biden-Administration hatte zu Beginn des Jahres US-amerikanische Army Tactical Missile Systems, auch ATACMS genannt, an die Ukraine gesendet, jedoch strenge Bedingungen für deren Einsatz aufgestellt: Sie durften nur auf russische Ziele in der besetzten Ukraine abgefeuert werden, nicht auf Russlands eigenes Territorium. William Alberque, ein ehemaliger Direktor des NATO-Zentrums für Rüstungskontrolle, sagte, diese Politik habe wenig Sinn gemacht und sei Russlands Interesse durchaus zuträglich.
Kriegsführung und rechtliche Grundlagen
„Indem wir der Ukraine ATACMS geben, aber ihr nur erlauben, Ziele in der besetzten Ukraine zu treffen, senden wir Russland die Nachricht: ‚Wenn du nur ein paar Meter über die Grenze gehst, bist du sicher‘,“ erklärte Alberque gegenüber CNN. Dies führe zu der absurden Vorstellung, dass Russland überall in der Ukraine angreifen kann, während die Ukraine nicht die tatsächlichen Angreifer treffen kann, wenn sie sich über die Grenze in Russland befinden.
Die Ukraine handelt im Rahmen der Gesetze des bewaffneten Konflikts. Wie Polens Außenminister Radek Sikorski im September gegenüber CNN erklärte, hat das Opfer von Aggression das Recht, sich auch auf dem Territorium des Aggressors zu verteidigen.
Umkämpfte Linien und ihre Bedeutung
Angesichts der besorgten Reaktionen auf die Entwicklungen der letzten Woche, wird oft vergessen, dass die Ukraine seit langem selbstentwickelte Drohnen in tiefes russisches Gebiet einsetzt und bereits westliche Waffen auf Gebiete abgefeuert hat, die der Kreml als sein eigenes betrachtet. Der Beschluss, etwas längerreichende westliche Waffen einzusetzen, stellt lediglich eine graduelle, aber keine grundlegende Veränderung dar.
Seit über einem Jahr verwendet Kiew britische Storm Shadows, um auf Ziele in der seit 2014 von Russland besetzten Krim zu treffen. Für Monate durfte Kiew ATACMS auf russische Ziele in der besetzten Ukraine abfeuern. Russland betrachtet diese Gebiete rechtlich als seine eigenen und hat mit „drei erheblichen Konsequenzen“ gedroht, sollte die Ukraine sie mit westlichen Waffen angreifen.
Seit Mai hat Washington Kiew auch die Nutzung von Kurzstrecken-Raketen erlaubt, um Ziele in Russland zu treffen, die sich in Grenznähe zur nordöstlichen Region Charkiw der Ukraine befinden. President Biden gab diese Entscheidung grünes Licht, obwohl Putin nochmals ähnliche atomare Drohungen aussprach, die einen solchen Schritt als potenziell gefährlich für „kleine dicht besiedelte Länder“ ansahen.
Fazit: Kontinuierliche Herausforderungen im Konflikt
„Immer wieder beweisen wir, dass das Überschreiten einer falschen roten Linie wirklich keine Konsequenzen nach sich zieht,“ sagte Alberque. Dennoch bleibt die Gefahr, dass diese Drohungen den Westen davon abhalten, der Ukraine die erforderlichen Mittel zur Selbstverteidigung zur Verfügung zu stellen. Mit Blick auf die anhaltenden Bedrohungen, glaubt Albuquerque, dass es wenige Gründe gibt, anzunehmen, dass sich die Situation diesmal grundsätzlich ändern könnte. Der mögliche Wahlsieg von Donald Trump hätte für Russland zudem eine potenziell positive Auswirkung, da dies die Wahrscheinlichkeit eines echten Eingreifens durch die USA oder NATO-Alliierten weiter verringern würde.
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