Das Thema Gewalt und Missbrauch in SOS-Kinderdörfern rückt erneut in den Fokus, nachdem eine unabhängige Kommission erschreckende Ergebnisse veröffentlicht hat. In ihrem Abschlussbericht wurde festgestellt, dass in den letzten Jahrzehnten mindestens 189 Meldungen über Grenzüberschreitungen gegenüber Kindern dokumentiert wurden. Dies umfasst nicht nur körperliche und emotionale Übergriffe, sondern auch ernsthafte Verletzungen der Privatsphäre sowie sexuelle Übergriffe. Diese besorgniserregenden Informationen, die den Zeitraum von 1976 bis Juni 2023 abdecken, werfen ein Schlaglicht auf Missstände innerhalb der Organisation.
Die Analyse der Vorfälle zeigt, dass in etwa der Hälfte der Fälle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Vereins verstrickt waren. In 20 Prozent der Vorfälle waren andere betreute Kinder die Täter. In vielen Fällen waren unterschiedliche Personengruppen an den Übergriffen beteiligt. Somit wird deutlich, dass das Problem vielschichtig ist und nicht nur an einzelnen Akteuren festgemacht werden kann.
Verantwortung und Aufarbeitung
Klaus Schäfer, der Vorsitzende der Kommission, erläuterte die Ergebnisse und erklärte: „Grenzverletzungen und Übergriffe gegenüber den anvertrauten Kindern hat es bei SOS-Kinderdorf nicht nur in der Vergangenheit gegeben, sondern auch in der jüngeren Zeit bis heute.“ Dieser Bericht ist wichtig für die zukünftige Aufarbeitung, die sich durch mitfühlendes Erinnern, Aufklärung und die Aneignung des erlittenen Leids auszeichnen sollte.
Die Organisation SOS-Kinderdorf hat sich ursprünglich zum Ziel gesetzt, Kindern eine familiäre Umgebung zu bieten, wenn deren eigene Eltern aus unterschiedlichen Gründen nicht für sie sorgen können. Diese grundlegende Mission wurde nun von den aufgedeckten Missständen schwer erschüttert. Der Bericht weist darauf hin, dass rund 40 Prozent der gemeldeten Übergriffe in Kinderdorf-Familien stattfanden, wobei ein ebenso großer Teil in stationären Unterbringungen in Wohngruppen mit rund um die Uhr Betreuung zu verorten ist.
Sabina Schutter, die Vorstandsvorsitzende von SOS-Kinderdorf e.V., hat angekündigt, die Empfehlungen der Kommission ernsthaft anzugehen und umzusetzen. „Der Bericht zeigt deutlich, dass es bei SOS-Kinderdorf seit seiner Gründung vor fast siebzig Jahren zu Unrecht, Machtmissbrauch und Grenzüberschreitungen gekommen ist“, sagte sie. Schutter äußerte ihr tiefes Bedauern über die Vorfälle und bat alle Betroffenen um Entschuldigung: „Wir haben nicht immer gut genug hingehört, nicht alle Beschwerden ernst genommen und nicht angemessen reagiert. Dafür übernehmen wir die Verantwortung.“
Diese Worte stehen als klarer Hinweis darauf, dass die Organisation bereit ist, sich den Fehlern der Vergangenheit zu stellen, jedoch ist sie sich auch bewusst, dass die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen ist. „Wir versprechen, jeder Meldung von Unrecht, die uns zur Kenntnis gebracht wird, schnell und umfassend nachzugehen und im Sinne der Betroffenen zu handeln. Denn jeder Fall ist einer zu viel“, betonte sie.
Die Schwere der Vorwürfe zeigt, wie dringend ein umfassendes Umdenken innerhalb von SOS-Kinderdorf erforderlich ist. Die Zivilgesellschaft, die Eltern und die Öffentlichkeit werden die Entwicklungen genau beobachten, um sicherzustellen, dass Kinder in dieser Einrichtung künftig besser geschützt werden.
Mehr Details zu diesem Thema finden sich in einem ausführlichen Bericht auf www.main-echo.de.