Bettina Rosenberger, heute 61 Jahre alt, erinnert sich nur ungern an das Jahr 1975. Ihre Sommerferien verbrachte sie in einem Erholungsheim im Schwarzwald, wo sie sich gefangen fühlte. „Wie im Gefängnis“, beschreibt sie die strengen Regeln, die dort herrschten. Zwölf Stunden Nachtruhe waren angesagt, und selbst ein Toilettengang stellte ein verbotenes Unterfangen dar. Wer beim Flüstern erwischt wurde, musste auf dem kalten Flur stehen – eine Bestrafung, die ihr noch lange in Erinnerung bleiben sollte.
Rosenberger kehrte aus dieser Zeit still und traurig zurück, ganz anders als das fröhliche Kind, das sie einmal gewesen war. Die Erinnerungen an das schlechte Essen und das Verbieten von jeglichem Laut sind für sie bis heute präsent. Diese Erfahrungen prägten nicht nur ihre Kindheit, sondern auch ihr späteres Leben, da sie oft vorsichtig und ängstlich agierte, um Konflikte zu vermeiden.
Die Realität der Verschickungskinder
Insgesamt schätzten Forscher, dass etwa eine Million Kinder in Baden-Württemberg während ihrer Kindheit in sogenannte Erholungsheime geschickt wurden. Diese Einrichtungen, die oft von verschiedenen Trägern wie Kirchen oder öffentlichen Trägern betrieben wurden, sollten ursprünglich der Gesundheitsförderung dienen. Viele Kinder litten jedoch nicht nur unter einer schlechten Betreuung, sondern erlebten auch Gewalt und Vernachlässigung.
Die Projektgruppe im Landesarchiv von Baden-Württemberg hat nun festgestellt, dass mehr als die Hälfte der damals „Verschickten“ Gewalt und Missbrauch erlitten hat. Über zwei Jahre lang haben Forscher und rund 100 Betroffene die Auswirkungen dieser „Verschickung“ untersucht. Rosenberger ist eine von vielen, deren Geschichte von einem Arzt beeinflusst wurde, der ihren Eltern empfiehlt, sie ins Heim zu schicken, um ihnen einen „Gratisurlaub“ zu ermöglichen. Ihre Kindheit wurde durch diesen Eingriff nachhaltig beschädigt.
Berichte über Missbrauch und Isolation
Experten schätzen die Gesamtzahl der bundesweit betroffenen Verschickungskinder auf zwischen 8 und 12 Millionen. Viele Betroffene berichteten von strengen Regeln, körperlicher Züchtigung, sowie sexualisierter Gewalt und Mangelernährung. Die Einrichtungen waren oft unterfinanziert, was zu einer gefährlichen Fahrlässigkeit der Erzieher führte. Einmal in der Einrichtung, fühlten sich die Kinder oft mehr als Tiere in einem Käfig als als glückliche Kinder, die sich erholen sollten.
Im Schwarzwald existierten mehr als 470 solcher Heime allein zwischen 1949 und 1980, wobei diese Zahl noch steigen könnte, da immer mehr solcher Plätze dokumentiert werden. „Die Kinder hatten große Angst, dass sie nicht mehr zurück nach Hause dürfen“, erklärte Projektleiter Christian Keitel bei der Vorstellung der Ergebnisse in Stuttgart. Ein Großteil der Heime war chronisch schlecht ausgestattet und die Aufsicht ließ zu wünschen übrig.
Die Ausstellungen und Berichterstattungen ermöglichen den Überlebenden, endlich Gehör zu finden, etwas, das ihnen in der Vergangenheit oft verwehrt blieb. Rosenberger selbst hat es erst viele Jahre später geschafft, über ihre Erlebnisse zu sprechen. „Ich dachte, ich würde meine Eltern verletzen, wenn ich ihnen davon erzähle“, gibt sie zu. Auch heute nimmt sie an Selbsthilfegruppen teil, die ihr helfen, das Erlebte zu verarbeiten.
Die Rückkehr nach den Ferien war für viele Kinder ein Schock, da sie zu Hause nicht die Unterstützung fanden, die sie gebraucht hätten. Rosenberger erinnerte sich an den Moment, als ihr Vater sie am Bahnhof abholte; sie brach in Tränen aus – nicht aus Freude, sondern aus einem tiefen Schmerz, den niemand zu erkennen schien. „Ich wollte nicht, dass sie ein schlechtes Gewissen haben“, sagte sie. Dies zeigt, wie hart es für die Betroffenen war, ihre Erfahrungen in einer Zeit zu teilen, in der solche Themen von der Gesellschaft weitgehend totgeschwiegen wurden.
Wie es scheint, gewinnt das Thema um die Verschickungskinder zunehmend an Aufmerksamkeit. Experten und Betroffene fordern nun, dass die schrecklichen Geschichten endlich anerkannt und ernst genommen werden. Die anhaltende Aufarbeitung dieser dunklen Kapitel der deutschen Geschichte stellt nicht nur einen Akt der Erinnerung dar, sondern auch einen notwendige Schritt in Richtung Gerechtigkeit und Anerkennung für all die Kinder, die unter den verheerenden Bedingungen litten.
Für mehr Details und eine genaue Untersuchung dieser Thematik bietet ein Bericht im Artikel von www.schwaebische.de interessante Einblicke und einen tieferen Kontext.