
Nach fast einem Jahrzehnt an der Macht gab der kanadische Premierminister Justin Trudeau dem lauten Chor der Kritik nach, der nicht mehr zu ignorieren war. Am Montag kündigte er seine Rücktritt an. Zu den lautesten Kritikern gehörte seine langjährige und treue Stellvertreterin, Vizepremierministerin Chrystia Freeland.
Kritik von Chrystia Freeland
Im Dezember hatte Freeland, damals noch stellvertretende Premierministerin, scharf gegen Trudeaus Politik gewettert und es als „teure politische Spielereien“ bezeichnet, auf die sich Trudeau in den jüngsten politischen Vorschlägen konzentrierte, einschließlich eines zweimonatigen Verkaufssteuerausfalls und von Rückzahlungen in Höhe von 250 kanadischen Dollar (175 US-Dollar) für die meisten Arbeiter.
In ihrem Rücktrittsschreiben bemerkte sie: „Wir haben uns in Bezug auf den besten Weg nach vorne auseinandergelebt“ und fügte einen Seitenhieb an Trudeaus sinkender Popularität hinzu: „Die Kanadier wissen, wann wir für sie arbeiten, und sie wissen ebenso, wann wir nur an uns selbst interessiert sind“, sagte Freeland.
Trudeaus Rücktritt und die Suche nach einer Nachfolge
Nur wenige Wochen später folgte Trudeau mit der Ankündigung seines eigenen Rücktritts: „Wenn ich aus der Gleichung als der Führer entfernt werde, der für die nächste Wahl der Liberalen Partei kämpfen wird, sollte das auch das Maß an Polarisierung senken, das wir gerade im Parlament und in der kanadischen Politik sehen“, erklärte er am Montag bei seinem Rücktritt.
Obwohl Trudeau zuvor bereits von einem unzufriedenen Publikum und einer aufstrebenden Oppositionsbewegung unter Druck gesetzt wurde, war Freelands öffentliche Mitteilung ein erschütterndes Zeichen für einen einst unerschütterlichen Verbündeten.
Chrystia Freeland: Die „Ministerin für alles“
Freeland, eine langjährige Figur der Liberalen Partei, hat im kanadischen Kabinett zahlreiche Ämter bekleidet und damit internationale Aufmerksamkeit auf sich gezogen. In der lokalen Presse wird sie gelegentlich als „Ministerin für alles“ bezeichnet.
„Freeland hatte wahrscheinlich das höchste Profil eines jeden Kabinettsmitglieds über den Premierminister hinaus“, erklärte Nelson Wiseman, emeritierter Professor an der Universität Toronto, gegenüber CNN.
Während der ersten Trump-Administration trat Freeland – damals Außenministerin – in hochkarätige Konflikte mit den Vereinigten Staaten ein, nachdem Trump Zölle auf Stahl- und Aluminiumimporte aus Kanada eingeführt hatte.
Sie war eng in die mühsamen Verhandlungen zur Überarbeitung des langjährigen nordamerikanischen Freihandelsabkommens NAFTA einbezogen, dessen Neugestaltung Trump erneut anstrebt.
Freeland und der Krieg in der Ukraine
Freeland hat sich als eifrige Unterstützerin des ukrainischen Kampfes gegen Russland präsentiert. Ihre persönliche Verbindung zu diesem Konflikt hat ihr als Politikerin zugutekommen, so Lori Turnbull, Professorin an der Dalhousie-Universität. „Die massive ukrainische Diaspora in Kanada und die Tatsache, dass sie in der Lage ist, mit ihnen in ihrer Muttersprache zu kommunizieren, sind für sie von Vorteil“, sagte Turnbull.
Sie spielte eine Schlüsselrolle bei der Positionierung Kanadas als entschiedener Unterstützer der Ukraine, indem sie sich für die Einfrierung von Milliardenwerten russischer Vermögenswerte und für umfangreiche Finanzhilfspakete für die Ukraine einsetzte.
Die Herausforderungen einer Freeland-Regierung
Unter den Kanadiern wird Freeland als fähige Politikerin betrachtet, die eng mit einer Regierung verbunden ist, auf die viele aufgrund der angespannten wirtschaftlichen Lage unzufrieden sind. „Sie hat einen hervorragenden Job beim Aushandeln des USMCA (United States-Mexico-Canada Agreement) gemacht. Sie ist eine sehr fähige junge Frau“, bemerkte der 66-jährige Ruheständler Rod Matheson. „Sie war Finanzministerin und ein Budget, das nie unter Kontrolle war, was beschämend war.“
Wer auch immer die Führung der Liberalen Partei übernimmt, steht vor einer schwierigen Aufgabe, und die Umfragen deuten darauf hin, dass sie die Partei neu gestalten müssen. „Ich denke nicht, dass irgendjemand erwartet, dass die Liberalen bei der nächsten Wahl den ersten Platz belegen werden. Die Frage ist also, wer die Partei wieder aufbauen wird“, sagte Turnbull.
Details zur Meldung