Moskau hat jüngst einen kontroversen Schritt unternommen: Die russische Generalstaatsanwaltschaft hat beschlossen, die Rehabilitierung von über 4.000 Opfern der berüchtigten Säuberungen unter dem sowjetischen Diktator Josef Stalin zurückzuziehen. Diese Maßnahme fällt in eine Zeit verstärkter Repressionen gegen die Zivilgesellschaft, was die Brisanz des Themas erhöht.
Andrej Iwanow, ein Sprecher der Behörde, erklärte in einem Interview mit der Zeitung «Kommersant», dass seit 2020 zahlreiche Fälle erkannt wurden, in denen Menschen aus den 1990er und frühen 2000er Jahren rehabilitiert worden waren, die während des Zweiten Weltkriegs als Vaterlandsverräter galten. Dies bezieht sich insbesondere auf Männer und Frauen, die mit den Nazis zusammengearbeitet haben. Einige von ihnen seien freiwillig der Waffen-SS beigetreten oder hätten in von den Nazis errichteten Selbstverwaltungsorganen fungiert. Diese neuen Entwicklungen werfen einen Schatten auf die bisherige Erinnerungskultur und die Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit.
Der historische Kontext
Stalin, der von Mitte der 1920er Jahre bis zu seinem Tod 1953 die Geschicke der Sowjetunion leitete, war für zahlreiche Wellen der politischen Verfolgung verantwortlich. Die bekannteste Phase, die als Großer Terror oder häufiger als Stalinsche Säuberungen bezeichnet wird, fand zwischen 1936 und 1938 statt. In diesen Jahren wurden Millionen von Menschen aufgrund realer oder vermeintlicher politischer Vergehen verfolgt, eingekerkert oder sogar hingerichtet.
Diese brutal unterdrückte Atmosphäre setzte sich auch im Verlauf des Zweiten Weltkriegs fort. Nach dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 verhafteten die Behörden zahlreiche Menschen, die verdächtigt wurden, mit den Nazis zu kooperieren. Infolgedessen wurden viele dieser vermeintlichen Kollaborateure letztlich rehabilitiert, nachdem ihre Fälle eingehend untersucht worden waren.
Folglich bringt die jetzige Entscheidung der russischen Regierung die Rehabilitierungspolitik auf eine neue Stufe. Die Initiative, die mehr als 4.000 Fälle betrifft, könnte als Versuch gesehen werden, die Geschichtserzählung rund um den Zweiten Weltkrieg und die damit verbundenen Verfolgungen zu manipulieren. Indem man die Erinnerung an diese Menschen im Zuge der allgemeinen Repression auslöscht, sendet die Regierung ein starkes Signal an die Gesellschaft: Loyalität und Gehorsam sind unerlässlich.
In diesem historischen Kontext ist es wichtig zu verstehen, dass die Rehabilitierungen in den 1990er Jahren oft als Ergebnis von gesellschaftlichem Wunsch nach Wahrheit und Gerechtigkeit betrachtet wurden. Tatsächlich war die Entschädigung und Anerkennung der erlittenen Unrechtigkeiten eine wichtige gesellschaftliche Debatte. Die Rücknahme dieser Maßnahmen könnte daher nicht nur individuelle Biografien betreffen, sondern auch das kollektive Gedächtnis der Gesellschaft und deren Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.
Die Entscheidung kommt zu einem sensiblen Zeitpunkt, an dem die Repression gegen kritische Stimmen in Russland zunimmt. Dies geschieht parallel zu einem aggressiveren Umgang der Regierung mit Dissens und Opposition, was die vielfältigen geopolitischen Spannungen signalisiert, die das Land derzeit durchlebt. Beobachter sehen die Entwicklung als besorgniserregend an, wenn man an die zukünftigen Erinnerungs- und Geschichtspolitiken denkt, die in Russland verfolgt werden könnten.
Der Weg zur Gerechtigkeit für die bei den Stalinschen Säuberungen Verfolgten würde durch diese Rücknahme der Rehabilitierungen zweifellos erschwert. Während immer mehr Menschen und Organisationen sich für die Erhaltung einer transparenten und ehrlichen Geschichtsschreibung einsetzen, könnte die Regierung mit diesem Schritt versuchen, eine Version der Vergangenheit zu fördern, die ihren aktuellen Narrativen zugutekommen soll.
Zusammengefasst bedeutet diese Entscheidung einen alarmierenden Rückschritt in der Auseinandersetzung mit einer der dunkelsten Zeiten der sowjetischen Geschichte. Die jüngsten Maßnahmen stehen im Widerspruch zu einem offenen und ehrlichen Diskurs über die Vergangenheit und könnten das Geschichtsbewusstsein der kommenden Generationen nachhaltig beeinflussen. Für eine tiefere Analyse dieses Phänomens berichtet auch www.lippewelle.de von den Hintergründen dieser Entscheidung.