Paris (dpa) – In einer überraschenden Entscheidung hat Emmanuel Macron, Frankreichs Präsident, den ehemaligen EU-Kommissar Michel Barnier als neuen Premierminister ernannt. Diese Wahl erfolgt weniger als zwei Monate nach den letzten Parlamentswahlen, und der Élyséepalast vertraut Barnier die Aufgabe an, eine Regierung der nationalen Einheit zu formen. Vor dem Hintergrund komplexer Mehrheitsverhältnisse ist die Frage, ob Barnier in der Lage sein wird, die verschiedenen politischen Strömungen zu vereinen, mehr als nur eine akademische Überlegung.
Barnier bringt wertvolle politische Erfahrung mit. Er hat nicht nur unter mehreren französischen Präsidenten gedient, darunter François Mitterrand und Jacques Chirac, sondern auch bedeutende Rollen in der Europäischen Union übernommen, etwa als Chefunterhändler beim Brexit. Seine Stellung als ehemaliger Minister verleiht ihm Respekt jenseits der Parteigrenzen, und sein kühler, sachlicher Stil wird sowohl bewundert als auch gefürchtet. Mit 73 Jahren ist er der älteste französische Premier, der jemals sein Amt antritt. Dies allein spricht Bände über die Richtung, in die Macron und die politische Spitze Frankreichs steuern wollen.
Herausforderung der Mehrheitsbildung
Die als schwierig geltende Mehrheitsfindung bleibt Barnier jedoch nicht erspart. Seine konservativen Républicains, die zuletzt angekündigt haben, nicht Teil einer Regierung werden zu wollen, könnten ihn möglicherweise dulden. Das ist jedoch noch nicht sicher. Barnier benötigt Stimmen aus verschiedenen politischen Lagern, um eine funktionierende Regierung bilden zu können. Sie scheinen vorerst bereit, die neue Regierung zu beobachten, insbesondere die nationalen Rechtsparteien unter Marine Le Pen, die darauf hinweisen, dass sie Barnier am Ende unterstützen könnten, vor allem aufgrund seiner Positionen zur Migrationspolitik und zur EU.
Auf der anderen Seite ist das linke Lager von der Ernennung stark enttäuscht. Ihre Reaktionen sind deutlich: Der sozialistische Teil beklagte eine „Verweigerung der Demokratie“, während die Grünen und Kommunisten dies als provokant empfinden. Letztlich wird der Druck auf Barnier wachsen, wenn er nicht in der Lage ist, die Wogen innerhalb des Parlaments zu glätten.
Politische Hürden und Herausforderungen
Doch nicht nur die Bemühungen um eine Mehrheit könnten Barnier auf die Probe stellen. Er steht auch vor der dringenden Notwendigkeit, den nächsten Haushalt zu verabschieden. Frankreich hat mit einer zunehmenden Neuverschuldung zu kämpfen, sodass ein Defizitverfahren durch die EU droht. Ein straffer und möglicherweise unpopulärer Sparkurs ist beinahe unvermeidlich, was ihm potenziell zusätzliche Schwierigkeiten einbringen könnte.
Die Wähler aus dem linken Lager erwarten zudem, dass die im Wahlkampf versprochenen Reformen, wie die Erhöhung des Mindestlohns und die Änderung der Rentenreform, tatsächlich angegangen werden. Das ist ein Zeichen dafür, dass unter den bestehenden politischen Spannungen eine Art Kräftemessen stattfinden wird, das nicht nur die Regierungsarbeit von Barnier in Frage stellen könnte, sondern auch Proteste in der Bevölkerung auslösen könnte.
Die Dynamik zwischen Macron und Barnier wird auch von großem Interesse sein. Es bleibt abzuwarten, wie viel Einfluss Macron während Barnier der neue Premier ist. Macron, der sich gleichzeitig auf die Außenpolitik konzentrieren muss, behält dabei in der internationalen Arena, insbesondere in Bezug auf Deutschland und Brüssel, einen gewissen Einfluss. Dieser Balanceakt könnte für Barnier entscheidend sein, wenn es darum geht, die Regierung mit dem notwendigen Rückhalt auszustatten.
Insgesamt ist die politische Landschaft Frankreichs für Barnier ein schwieriger, aber auch spannender Rahmen. Die nächsten Schritte werden zeigen, ob er den Herausforderungen gewachsen ist und die verschiedenen interessierten Parteien zusammenführen kann.
– NAG