Ferdinand von Schirach, bekannt für seine fesselnden Gerichtsdramen, bringt mit seinem neuesten Stück „Er sagt. Sie sagt.“ ein ernstes und aufwühlendes Thema auf die Bühne. Dieses Drama, das am 7. September 2024 in den Kammerspielen der Josefstadt seine Uraufführung feierte, beschäftigt sich mit den komplexen und oft schmerzhafter Fragen rund um das Thema Vergewaltigung und die Herausforderungen der Wahrheitsfindung. Unter der Regie von Sandra Cervik wird die Zuschauer auf eine emotionale und spannungsgeladene Reise mitgenommen.
Der Schlüssel zur Auseinandersetzung mit der Wahrheit spielt in diesem Stück eine entscheidende Rolle. Schirach thematisiert, wie die Gesetze und Verfahren im Gerichtsalltag sowohl Klarheit schaffen als auch eine gewisse Enge und Regulative mit sich bringen. So beschreibt er im Epilog die „voreiligen Griffe nach der Wahrheit“, die häufig in sensiblen Fällen wie Vergewaltigung zu beobachten sind. Indem er auf diesen Aspekt hinweist, verdeutlicht er die Herausforderungen, vor denen sowohl Opfer als auch Angeklagte stehen, oft in einem Meer aus Vorurteilen und Medienberichten.
Der Konflikt im Gerichtssaal
Das Stück entfaltet sich im vertrauten Setting eines Gerichtssaals. Im Mittelpunkt stehen eine bekannte Talkshow-Journalistin und ein angesehener Wirtschaftskapitän, deren Beziehung nach vier Jahren abrupt endet. Diese Trennung wird in einem unerwarteten Moment von sexueller Spannung begleitet, die in Vorwürfen der Vergewaltigung mündet. Während die Journalistin von einem Übergriff spricht, bleibt der Angeklagte zunächst stumm, während seine Verteidigerin eine ganz andere Sichtweise entfaltet. Sie argumentiert, dass der Mann das Opfer einer Racheaktion sei, nachdem die Beziehung einseitig beendet wurde.
Die Komplexität der Argumentation zeigt sich in den verschiedenen Hinweisen und Zeugen, die Schirach einführt: von der Gerichtsmedizinerin bis hin zu einer Freundin der angeblich Vergewaltigten, die sich mit den psychologischen Auswirkungen und kulturellen Stigmatisierungen auseinandersetzt. Diese Dynamik wird durch das gesellschaftliche Umfeld weiter erschwert, in dem Medien und Social Media oft im Funktionsmodus der Vorverurteilung agieren.
Psyche und Manipulation
Laut Schirach geht es in „Sie sagt. Er sagt.“ nicht nur um die rechtlichen Anklagen, sondern vorrangig um die Psychologie der Protagonisten. Dies ist besonders relevant in Fällen, wo die psychologischen Motive hinter einer Tat oder einer Beschuldigung auf den Prüfstand kommen. Auf eindringliche Weise thematisiert er die Verdächtigungen, die auf der psychischen Verfassung der Frauen basieren, und stellt häufig die Frage, ob das vermeintliche Opfer womöglich ein „Lügengebäude“ konstruiert, um sich zu rächen oder einen Narzissmus auszuleben.
Der Autor genießt es, in seiner Erzählweise Spannungen aufzubauen, indem er wissentlich die Dinge in Frage stellt, die in einem Gerichtsschauprozess als „Wahrheit“ gelten. Diese Wendungen sorgen dafür, dass der Zuschauer ständig gefordert ist, die Gespräche und Entwicklungen neu zu bewerten, was das Stück besonders packend macht.
Die Rollen sind allesamt bemerkenswert besetzt. Joseph Lorenz gibt den Anwalt der Klägerin, und Martina Stilp interagiert als eloquente Vertreterin des Angeklagten. Hierbei sticht vor allem die Dialogdynamik hervor, die zwischen den Anwälten entsteht. Beide scheinen sich über die rechtlichen Aspekte hinweg zu bewegen und die emotionale Tiefe des Falles zu spiegeln, was dem Publikum einen ehrlichen Zugang zu den Charakteren ermöglicht.
Die kreative Regie von Cervik hebt diese Darstellungen hervor und gestaltet das Spannungsfeld zwischen den Figuren mit einer klaren und zugänglichen Optik, die die Komplexität ihrer emotionalen Kämpfe und moralischen Dilemmata einfängt. Die Herausforderung besteht hierin, dass die emotionale Wahrheit oft schwerer wiegt als die rechtliche Realität.
Das Stück richtet sich nicht nur an Theaterliebhaber, sondern auch an ein breiteres Publikum, das sich für gesellschaftlich relevante Themen interessiert. Es lädt zu Diskussionen und Reflexionen über ein Thema ein, das auch im Jahr 2024 noch brennend aktuell ist. Schirach gelingt es, mit „Er sagt. Sie sagt.“ ein eindrucksvolles, zum Nachdenken anregendes Werk zu schaffen, das mit seinen unerwarteten Wendungen und tiefgreifenden Charakterstudien einen bleibenden Eindruck hinterlässt.
In einer Welt, in der die Suche nach der Wahrheit oft von Emotionen überlagert wird, bleibt die Frage: Was ist die Wahrheit, und zu welchem Preis wird sie verteidigt? Mit dieser Thematik rechnet Ferdinand von Schirach nicht nur inszenatorisch ab, sondern fordert auch sein Publikum heraus, sich mit den facettenreichen Interpretationen von Wahrheit und Gerechtigkeit auseinanderzusetzen.
Die Premierenaufführung von „Er sagt. Sie sagt.“ hat die Weichen für eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit einem Thema gestellt, das weit über den Gerichtssaal hinauswirkt und nicht nur rechtliche, sondern auch gesellschaftliche Dimensionen hat. Der Abend im Theater wird so zu einer Plattform, um über die Grenzen der Wahrheit nachzudenken.
Das Stück findet nach 1 Stunde und 55 Minuten ohne Pause seinen Abschluss, und die Publikumsreaktionen versprechen bereits intensive Diskussionen über die dargebotenen Themen und deren Relevanz für die gegenwärtige Gesellschaft.