Im Kunstmuseum St.Gallen ist derzeit die bedeutendste Ausstellung der Künstlerin Anne Marie Jehle (1937–2000) zu sehen, die den Titel „Jeder Spiesser ein Diktator“ trägt. Jehle bleibt eine faszinierende und komplexe Figur, die in der Kunstszene oft übersehen wird. Ihre Werke vermitteln eine starke Botschaft, die auch heute noch relevant ist.
Die Ausstellung, die über 150 ihrer Arbeiten umfasst, gibt einen tiefen Einblick in Jehles vielseitiges Schaffen. Der Schwerpunkt liegt auf der Verbindung von Kunst und Leben, die in ihren Werken stets präsent ist. Ihre künstlerische Reise begann mit der Bauernmalerei, für die sie 1965 in Ascona ausgezeichnet wurde. Bald darauf entschloss sie sich, ihren eigenen Weg als Künstlerin zu gehen. Ihre Biografie ist geprägt von einer Abkehr von der Kunstwelt, die sie 1989 nach einem Umzug in die USA endgültig hinter sich ließ.
Wiederentdeckung einer einzigartigen Künstlerin
Obwohl Anne Marie Jehle schon in den 1980er-Jahren von der Bildfläche verschwand, ist ihr Erbe durch zahlreiche Werke, die in die Kunstmuseen von Stuttgart, Liechtenstein und St.Gallen gelangten, wieder aufgetaucht. Diese Schenkungen geben der Ausstellung in St.Gallen einen besonderen Stellenwert und ermöglichen es dem Publikum, die bisher unbekannte Dimension ihrer Kreativität zu entdecken.
Kuratorin Nadia Veronese äußert sich zur Selbsterkenntnis Jehle: „Wir wissen nicht, weshalb sie sich von der Kunstwelt abwandte“, sagt sie und verweist auf die anhaltende Faszination, die ihre Kunst auch heute ausübt. Sie verortet Jehles Arbeit im Kontext der feministischen Avantgarde und der Fluxus-Bewegung, was der Ausstellung zusätzliche Tiefe verleiht. Die Szenerie ist so gestaltet, dass sie die vielen kleinformatigen Werke geschickt in Szene setzt, während die Wahl der Farben bis auf einen bestückten Saal eher dezent ist.
Provokante Themen und weibliche Perspektive
Die thematische Tiefe der Ausstellung wird durch Arbeiten ergänzt, die nicht nur die Sensibilität für weibliche Identität und Begehren thematisieren, sondern auch gesellschaftliche Strukturen hinterfragen. Ein Beispiel ist das Objekt „Eisbecher auf Serviertablett“, in dem Jehle Gipsabgüsse von Penisspitzen humorvoll in Glacebechern präsentiert, was die Wahrnehmung von Erotik und Geschlechterrollen in einem neuen Licht erscheinen lässt.
Ein weiteres bemerkenswertes Werk ist ihre ironische Überarbeitung des traditionellen Mariengebets, die deutliche Kritik an den für Frauen langen Zeit als einschränkend empfundenen Rollen im ländlichen Vorarlberg übt. Anne Marie Jehle zeigt in ihrer Kunst, dass sie die vorherrschenden Normen nicht nur hinterfragt, sondern auch die Stimme erhebt, um auf Missstände hinzuweisen.
Die Ausstellung „Jeder Spiesser ein Diktator“ verdeutlicht, dass Anne Marie Jehle nicht nur eine Künstlerin war, die ihrer Zeit weit voraus war, sondern auch eine, die in ihrer Abkehr von der Kunstwelt einen tieferen Kommentar über das Kunstsystem und die gesellschaftlichen Herausforderungen ihrer Zeit hinterlässt. Das Interesse an ihrer Arbeit wächst, und die Ausstellung könnte dazu beitragen, diese bemerkenswerte Künstlerin einem breiten Publikum näherzubringen und ihren Platz in der Kunstgeschichte zu festigen.
Die Ausstellung läuft bis zum 9. März, und ein begleitender Katalog wird im Februar veröffentlicht. Anne Marie Jehles Kunst ist eine Entdeckung wert, die die Besucher nachhaltig ansprechen und zum Nachdenken anregen wird. Informationen zu dieser Ausstellung sind auch hier zu finden.