Am traditionsreichen Berliner Ensemble, wo die Bühne auf sowjetischen Panzerrädern thront, stellt Frank Castorf sein neuestes Werk „Kleiner Mann – was nun?“ nach dem Roman von Hans Fallada vor. In einem beeindruckenden Theaterstück, das über fünf Stunden dauert, wird die Geschichte des kleinen Angestellten Pinneberg lebendig. Er ist jemand, der nach den Werten der Gesellschaft strebt, aber bald von Wut und Verzweiflung übermannt wird. Diese dramatische Inszenierung bleibt nicht nur den nostalgischen Erinnerungen an die „Goldenen Zwanziger“ treu, sondern bietet auch einen beunruhigenden Blick auf die sozialen Realitäten der damaligen Zeit.
Castorfs kreative Vision wird durch ein minimalistisches Bühnenbild von Aleksandar Denić unterstrichen. Die karge, rot behangene Wand im Hintergrund und das Klavier symbolisieren die trostlose Unterkunft des Pärchens. Diese Inszenierung hebt die Abgründe der Charaktere hervor, und dank der Verwendung von Live-Kameras wird das Geschehen unter der Bühne — die Arbeitswelt des Pinneberg — auf eindringliche Weise vermittelt. So wird der Zuschauer Zeuge der Konkurrenz und Demütigungen, die Pinneberg im Warenhaus erlebt, wo er ein unglücklicher Angestellter ist und letztendlich an den gesellschaftlichen Erwartungen scheitert.
Die Kämpfe des kleinen Mannes
Die Emotionen des kleinen Mannes werden hart auf den Prüfstand gestellt. Castorf nutzt die Worte Falladas, um die bitteren Wahrheiten der ehemaligen Angestelltenkultur zum Ausdruck zu bringen. Der Gedanke der moralischen „rosa Hautfarbe“, der von Siegfried Kracauer geprägt wurde, zeigt sich in der Inszenierung: Farbliche Vielfalt dient als Fassade für ein gnadenloses Dogma des Überlebens. Pinneberg und seine Frau Lämmchen erkennen, dass in einer Welt, die sie als ‚Raubtiere‘ bezeichnet, für sie kein Platz ist. Trotz ihrer Empörung sind sie in einer Gesellschaft gefangen, die sie erbarmungslos zurückweist.
Eine bedeutende Szene des Stücks zeigt Pinnebergs Traum von einer Flucht — einer Robinsonade, in der er sich von den Anforderungen und Enttäuschungen des Lebens entfernen möchte. Diese Flucht zeigt die Wunschvorstellungen einer Figur, die sich in einem System der Ungerechtigkeit verliert. Castorf verknüpft Pinnebergs Rückzug mit der Angst der Protagonisten vor großen Ideologien und dem Unwillen, sich mit den politischen Kämpfen ihrer Zeit auseinanderzusetzen.
Theater als Spiegel der Geschichte
Castsorf wagt es sogar, den Bogen bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs zu spannen, wobei die kleinen Männer in Wehrmachtsuniformen zwischen den Fronten gefangen sind. Diese tragische Entwicklung wird durch den Verweis auf Heiner Müllers „Die Schlacht“ verdeutlicht, das unter der Drehbühne spielt, und erzählt von den verheerenden Kriegsrealitäten, in denen der kleine Mann erneut zum Spielball größerer Mächte wird. Hier wird die Brisanz der Themen, die Falladas Werk behandelt, unvermittelt greifbar.
Die Inszenierung wird von einem starkes Ensemble getragen, darunter Andreas Döhler und Pauline Knof, die ihren Rollen mit leidenschaftlicher Intensität Leben einhauchen. Die Kombination aus dramatischer Handlung, musikalischen Einlagen und visuellem Spektakel schafft eine immersive Erfahrung, die man nicht nur sehen, sondern fühlen muss. Castorf und sein Team zeigen, dass das Theater nicht nur ein Ort der Unterhaltung ist, sondern auch ein Raum zur Reflexion über menschliche Abgründe und gesellschaftliche Entwicklungen. Die künstlerische Leistung verschmilzt mit der schmerzhaften Zeitgeschichte und bildet so ein faszinierendes Gesamtkunstwerk.
„Kleiner Mann – was nun?“ ist somit nicht nur eine literarische Adaption, sondern auch ein eindringlicher Kommentar zu den prekären Verhältnissen, die auch in unserer heutigen Zeit relevant sind. Das Stück fordert den Zuschauer heraus, sich mit den Unsicherheiten und den moralischen Dilemmata auseinanderzusetzen, die das Leben jedes Einzelnen prägen können. Castorf gelingt es, einen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart herzustellen, der den Besucher noch lange nach dem Verlassen des Theaters beschäftigt.
Für eine detaillierte Betrachtung des Falls, siehe den Bericht auf www.welt.de.