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Fritz Haarmann: Das fragwürdige Gutachten eines Mörders in Göttingen

Vor 100 Jahren wurde der Serienmörder Fritz Haarmann in Göttingen psychiatrisch begutachtet, wobei das damals erstellte Gutachten von Professor Ernst Schulz heute als fragwürdig gilt, da wichtige Aspekte seiner Kindheit und psychischen Verfassung nicht ausreichend berücksichtigt wurden.

Im Jahr 1924 wird die deutsche Gesellschaft durch die Verhaftung des Serienmörders Fritz Haarmann erschüttert. Der Fall ist nicht nur wegen der schrecklichen Taten von Haarmann bekannt, sondern auch wegen der kontroversen psychiatrischen Begutachtung, die er in Göttingen erhielt. Haarmann, der am Hauptbahnhof Hannover festgenommen wurde, war verdächtigt worden, zahlreiche junge Männer ermordet und ihre Leichen verstümmelt zu haben. Diese Gräueltaten lassen die damalige Gesellschaft nicht mehr los und führten zu einem juristischen Verfahren, das bis heute als rechtlich fragwürdig gilt.

Die psychiatrische Untersuchung fand in einer Heil- und Pflegeanstalt in Göttingen statt, wo Haarmann für sechs Wochen untergebracht war. Der Psychiater Professor Ernst Schulz wurde mit der Aufgabe betraut, die Zurechnungsfähigkeit von Haarmann zu überprüfen. Wichtig ist hier, dass der Gutachter nicht beeinflusst sein sollte – ein Grundsatz, der im Fall Haarmann jedoch nicht eingehalten wurde.

Die Bedeutung des Gutachtens

Das Ergebnis des Gutachtens war von entscheidender Bedeutung für das anschließende Gerichtsverfahren. Schulz kam zu dem Schluss, dass Haarmann zurechnungsfähig war und somit die volle Verantwortung für seine Taten trug. Dies ebnete den Weg für die Rechtsfolgen, die die öffentliche Meinung der damaligen Zeit verlangte. Im Dezember 1924 wurde Haarmann wegen 24-fachen Mordes zum Tode verurteilt. Dieses Urteil hat sowohl rechtliche als auch gesellschaftliche Relevanz.

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Die Frage der Zurechnungsfähigkeit von Tätern ist grundlegend für das Strafrecht. Ein Gutachter sollte immer die Umstände und die psychischen Zustände eines Täters objektiv anhören und bewerten. Bei der Auswertung der Protokolle von damals stellte jedoch die forensische Psychiaterin Christine Pozsár fest, dass diese Grundsätze im Fall von Haarmann nicht eingehalten wurden.

Schulz’ Beratung war nicht nur unprofessionell, sondern beinhaltete auch beleidigende Äußerungen, wie „Ein solches Schwein wie Sie habe ich noch nicht gesehen.“ Sein Verhalten war somit nicht nur im Hinblick auf die Neutralität fragwürdig, sondern auch seine Bewertungsmaßstäbe waren von persönlichen moralischen Überzeugungen geprägt. Pozsár empfand, dass Schulz Haarmanns Taten nicht aus dem individuellen Erleben des Täters ableitete, sondern sofort nach religiösen und moralischen Maßstäben urteilte.

Vernachlässigte Hintergründe und Kindheitstraumata

Ein weiterer bedeutender Kritikpunkt am Gutachten ist die Verletzung der grundlegenden Prinzipien der forensischen Psychiatrie. Es wurde versäumt, auf wichtige Aspekte von Haarmanns Kindheit und Jugend einzugehen. Diese Lebensabschnitte wiesen schwere psychische Belastungen auf, darunter ein risikobehaftetes Verhältnis zu seinem Vater sowie sexueller Missbrauch durch seinen älteren Bruder. Solche Erfahrungen könnten einen erheblichen Einfluss auf die Entwicklung einer Persönlichkeitsstörung und damit auf Haarmanns spätere Taten gehabt haben.

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Trotz der offensichtlichen Relevanz dieser Informationen wurden sie in Schulz‘ Gutachten nicht berücksichtigt. Es ist sichtbar, dass Schulz nicht die Zeit und Mühe aufwandte, um Haarmanns komplexe psychische Verfassung vollständig zu begreifen, was seine Beurteilung stark einschränkte.

Haarmanns Taten fanden schließlich am 15. April 1925 durch das Fallbeil ihr tragisches Ende. Unmittelbar vor seiner Hinrichtung äußerte Haarmann seine letzten Worte: „Auf Wiedersehen“, was ein bedrückendes Bild seiner Haltung widerspiegelt.

Ein bleibendes Erbe der Grausamkeit

Haarmann ist nicht nur aufgrund seiner Verbrechen in die Geschichte eingegangen, sondern auch wegen seiner posthumen Präsenz in der akademischen Welt. Nach seiner Hinrichtung wurde Haarmanns Schädel als Forschungsobjekt an die Universität Göttingen übergeben. Dies führt zu einer kontroversen Diskussion über Ethik und Moral in der medizinischen Forschung. Der Präparierte Schädel wurde bis 2014 aufbewahrt, bevor er schließlich eingeäschert und anonym bestattet wurde, was die Spuren dieser düsteren Geschichte symbolisch beseitigte. Haarmanns Fall bleibt nicht nur ein Beispiel für die Grenzen der psychiatrischen Begutachtung, sondern auch für die Verantwortung der Gesellschaft, mit solchen Gräueltaten umzugehen.

Die Fallgeschichte von Fritz Haarmann bietet nicht nur einen Einblick in die Psychiatrie der 1920er Jahre, sondern reflektiert auch die gesellschaftlichen und strukturellen Entwicklungen im Umgang mit psychischen Erkrankungen und dem Rechtssystem. In der Zeit Haarmanns war die Psychiatrie stark durch die Ansichten der jeweiligen Gutachter geprägt, die oft von persönlichen Überzeugungen oder gesellschaftlichen Normen beeinflusst waren. Diese Situation führte häufig dazu, dass Patienten nicht objektiv beurteilt wurden und die Therapieansätze zunehmend als moralisch fundiert betrachtet wurden, anstatt sich auf medizinische Evidenz zu stützen.

Die übergreifende Entwicklung im deutschen Gesundheitswesen des frühen 20. Jahrhunderts unterlag verschiedenen Veränderungen, die sowohl politische als auch soziale Aspekte berührten. Programme zur Eugenik und die Vorstellung von „rassenhygienischen“ Aspekten beeinflußten die Psychiatrie erheblich, was zu einem teils menschenverachtenden Umgang mit psychisch kranken Menschen führte. Haarmanns Fall steht beispielhaft für die Probleme, die Frauen und Männer mit psychischen Erkrankungen besonders in der Weimarer Republik erlebten.

Psychiatrische Gutachten im Wandel der Zeit

Der Umgang mit psychiatrischen Gutachten hat sich seit den 1920er Jahren gewandelt. Während des frühen 20. Jahrhunderts lag der Fokus oft darauf, die Zurechnungsfähigkeit zu bewerten, um die strafrechtliche Verantwortlichkeit zu bestimmen. In der heutigen Zeit wird in der Forensischen Psychiatrie viel stärker auf eine umfassende Diagnostik geachtet, bei der biologische, psychologische und soziale Faktoren in die Bewertung einfließen.

Zudem haben sich die Ansprüche an Gutachter verändert. Diese müssen heute nicht nur neutral und objektiv bleiben, sondern auch in der Lage sein, die individuelle Lebensgeschichte des Begutachteten einzuordnen und aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse zu berücksichtigen. Ein Beispiel für die Entwicklung in der forensischen Psychiatrie ist die Implementierung der DSM-5-Kriterien (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen), die eine standardisierte Diagnosestellung ermöglichen.

Aktuelle Studien über Serienmörder und deren Hintergründe

In den letzten Jahren hat es mehrere Studien gegeben, die sich mit einem besseren Verständnis der Motivation und des Verhaltens von Serienmördern befassen. Eine Untersuchung über die psychosozialen Hintergründe von Serienmördern in Deutschland hat gezeigt, dass zahlreiche Täter ähnlich wie Haarmann in ihrer Kindheit schwierige Verhältnisse durchlebt haben, die einen erheblichen Einfluss auf ihre Entwicklung hatten.

Diese Psychopathologien gehören häufig zu einem komplexen Gefüge, das emotionale Vernachlässigung, Missbrauch und Gewalt in der Kindheit umfasst. Studien belegen, dass eine präventive Herangehensweise auf eine frühzeitige Intervention zur Verbesserung der psychosozialen Umstände abzielt, um der Entstehung von gewalttätigem Verhalten entgegenzuwirken.

Zudem wird in der Forschung immer mehr der Aspekt des neurobiologischen Verhaltensforschungsansatzes betrachtet, der untersucht, inwiefern biologisch bedingte Faktoren, beispielsweise genetische Dispositionen, zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft führen können. Quellen wie die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie bieten laufend aktuelle Publikationen und Erkenntnisse zu diesem Themengebiet an, um die medizinische Praxis zu informieren und zu verbessern.

– NAG

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