Neubrandenburg zeigt sich derzeit von seiner bunten Seite: Regenbogenflaggen zieren die Fenster vieler Geschäfte und die Fassaden diverser Gebäude. Dieser sichtbare Ausdruck von Vielfalt und Toleranz ist jedoch kein unbeschwerter Akt der Freude. Vielmehr handelt es sich um einen stillen Protest gegen eine Entscheidung der städtischen Vertretung, die für Schlagzeilen in ganz Deutschland sorgt.
Am 9. Oktober hat die Neubrandenburger Stadtvertretung durch eine Abstimmung, die Stimmen von rechtspopulistischen Parteien und Wählergemeinschaften zur Mehrheit verhalf, entschieden: Die Regenbogenflagge soll am Hauptbahnhof nicht mehr gehisst werden. Offizielle Begründung: Die Flagge werde wiederholt beschädigt und abgerissen. Diese Entscheidung hat nicht nur einen lokalen Echo ausgelöst; Oberbürgermeister Silvio Witt hat seinen Rücktritt für Ende Mai 2025 angekündigt und begründet dies mit den anhaltenden persönlichen Angriffen aus dem rechten Spektrum.
Nationweite Diskussion um die Flaggen-Kontroversen
Witts Rücktritt ist ein bedeutender Schritt, der die nationale Debatte über die Rechte der LGBTQ+-Gemeinschaft und etwaige Rückschritte in der politischen Kultur anheizt. Der Oberbürgermeister selbst ist offen homosexuell und hat erklärt, dass die jüngsten Vorfälle das Fass für ihn zum Überlaufen gebracht haben. „Die Freiheit und der Frieden, für die die Flagge steht, sind in Gefahr“, so Witt. Diese Äußerungen haben viele Menschen in der Stadt mobilisiert, die am vergangenen Donnerstag an einer Demonstration teilnahmen.
Bei dieser Demonstration versammelten sich rund 1.000 Menschen, um gemeinsam gegen die Verbannung der Regenbogenflagge zu protestieren. Unter ihnen war auch Pastorin Christina Jonassen, die die Notwendigkeit betonte, die schweigende Mehrheit zu mobilisieren. Der Rückgang der demokratischen Werte in Neubrandenburg ist für sie alarmierend. „Wir müssen die Stimmen der vielen herausbringen, die der Meinung sind, dass ein solches Verbot nicht akzeptabel ist“, fügte sie hinzu.
Die politische Landschaft in Neubrandenburg hat sich in den letzten Jahren verändert. Die AfD konnte bei den letzten Kommunalwahlen im Juni 2023 Zugewinne verzeichnen und damit die Anzahl ihrer Sitze von sechs auf neun erhöhen. Diese Entwicklung macht die Sorgen um einen erstarkenden rechten Einfluss in der Stadt nachvollziehbar.
Reaktionen aus der Politik und Gesellschaft
Der CDU-Fraktionsvorsitzende Björn Bromberger hat ebenfalls auf die wachsende rechte Tendenz hingewiesen. Er räumte ein, dass man die Entwicklungen in den letzten Jahren unterschätzt habe. „Wir müssen klarer sagen, dass wir das nicht dulden“, so Bromberger. Seine Partei könnte möglicherweise eine Schlüsselrolle bei der bevorstehenden Oberbürgermeisterwahl spielen. Fragen zur eigenen Kandidatur lässt er jedoch offen.
Ein weiteres prominentes Gesicht der Stadt, der Rektor der Hochschule Neubrandenburg, Professor Gerd Teschke, fordert die Stadtvertretung auf, den Beschluss zurückzunehmen. Seine Argumentation basiert auf dem internationalen Ansehen, das Neubrandenburg gefährdet, indem es solche Kontroversen auslöst. „Die Entscheidung geht nicht nur an die lokale Community, sondern hat Auswirkungen auf das Ansehen der Stadt“, so Teschke.
Trotz der anderen Meinungen, die eine Neutralität im öffentlichen Raum fordern, bleibt die Zerrissenheit in der Stadt bestehen. Holger Hanson, ein Vertreter der Wählergemeinschaft „Projekt NB“, sieht in der Entscheidung für das Verbot der Flagge einen Versuch, staatliche Neutralität zu bewahren. „Es geht nicht um eine Abwertung, sondern um sachliche Politik“, betont Hanson.
Die Meinungen in Neubrandenburg sind gespalten. Während einige auf eine Rückkehr der Regenbogenflagge hoffen, gibt es beunruhigende Tendenzen in der städtischen Haltung gegenüber Minderheiten. Jenny Voelsch, eine Lehrerin, die ebenfalls an der Demonstration teilnahm, macht keinen Hehl aus ihrer Besorgnis über die Entwicklung, die sie als Rückschritt empfindet. „Ich wurde selbst in den Neunzigern von Nazis angegriffen. Jetzt scheint diese Geschichte wiederholt zu werden“, erklärte sie erschüttert.
Die Rückkehr zu einer positiven Wahrnehmung von Neubrandenburg, die in den 2000ern entstand, gestaltet sich also schwierig. In der Stadt, die für ihre offene Atmosphäre bekannt war, breitet sich nun das Gefühl der Unsicherheit aus. Die viel diskutierte Gemeinschaftsflagge, die für Toleranz steht, wird zu einem Symptom eines tief verwurzelten Problems in der politischen Kultur. Der Streit um die Regenbogenflagge zeigt damit, wie wichtig es ist, für die eigenen Werte einzustehen und die Gespräche mit den Gegnern nicht scheuen.