Die Herausforderungen in der evangelischen Kirche sind nicht nur durch die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen geprägt, sondern sie werfen auch grundlegende Fragen zur Verantwortlichkeit und den Strukturen innerhalb der Institution auf. Jacob Joussen, Professor für Rechtswissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum und Mitglied des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), hat diese dringenden Anliegen in den Fokus gerückt.
Kritik an interner Aufarbeitung
Eine klare Botschaft sendete Joussen in einem Interview mit dem Bremer „Weser-Kurier“ (10.8.): «Die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs muss externalisiert werden. Eine Institution wie die EKD kann sich nicht selbst aufarbeiten.» Diese Aussage verdeutlicht das Dilemma, in dem sich viele Betroffene und Kirchenmitglieder befinden, da die Institution mit ihrer eigenen Vergangenheit nicht angemessen umgeht. Joussen beschreibt den Umgang mit den Ergebnissen der ForuM-Studie, die im Januar vorgestellt wurde, als ungenügend. Die Studie hat mindestens 2.225 Betroffene und 1.259 mutmaßliche Täter identifiziert, was auf eine alarmierende Situation hinweist.
Beweggründe für den Rücktritt
Die Entscheidung von Joussen, seinen Platz im EKD-Rat vor der regulären Synode im November in Würzburg niederzulegen, entspringt seiner Unzufriedenheit über den Umgang der EKD mit diesem sensiblen Thema. Zudem erwähnt er «eine Reihe persönlicher Gründe», die zu seinem Rückzug beitragen. Sein Schritt wirft Fragen auf: Wie können missbrauchte Personen das Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit in einer Institution empfunden werden, die sich in dieser Weise mit den schmerzhaften Erfahrungen ihrer Mitglieder auseinandersetzt?
Ein notwendiger Schritt zur Veränderung
Die Forderung von Joussen, die Aufarbeitung externen Experten anzuvertrauen, könnte als ein notwendiger Schritt zur Wahrheitsfindung und zur Schaffung eines sicheren Rahmens für Betroffene verstanden werden. Indem die Kirche ihre Verantwortung an externe Stellen abgibt, könnten die Stimmen der Betroffenen und die Forderungen nach Gerechtigkeit klarer und effektiver gehört werden.
Veränderungen in der Kirchenleitung
Parallel zu diesen Entwicklungen hat die EKD-Synode auch die Notwendigkeit erkannt, für die anstehenden freien Plätze im Leitungsgremium geeignete Nachfolger zu finden. Neben der Nachfolge von Annette Kurschus, die ihr Amt Ende des vergangenen Jahres niedergelegt hat, wird auch die Zukunft der EKD durch den bevorstehenden Ruhestand von Volker Jung beeinflusst. Dieser dynamische Wechsel in der Führungsspitze könnte neue Perspektiven und Ansätze in der Aufarbeitung des Missbrauchs mit sich bringen.
Wichtigkeit der Thematik und nächste Schritte
Die Diskussion um die Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch innerhalb der evangelischen Kirche ist nicht nur lokal relevant, sondern hat auch Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Kirche in der Gesellschaft. Der Umgang mit diesen Fällen könnte das Vertrauen der Gemeindemitglieder nachhaltig beeinflussen. Der EKD-Rat, als öffentliche Stimme der evangelischen Kirche, steht vor der Herausforderung, sich den Erwartungen und Bedürfnissen aller Betroffenen zu stellen.
Die kommenden Debatten in der Synode vom 10. bis 13. November in Würzburg werden entscheidend dafür sein, in welche Richtung sich die evangelische Kirche entwickeln wird. Die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen und dabei die Stimmen der Betroffenen ernst zu nehmen, wird nicht nur die Glaubwürdigkeit der Institution stärken, sondern auch dazu beitragen, ein neuartiges Bewusstsein für Missbrauchsfragen in kirchlichen Kontexten zu schaffen.
– NAG