In Deutschland sind große, alte Bäume nicht einfach nur Pflanzen, sondern tragende Säulen unserer natürlichen und historischen Landschaft. Die Bundesregierung hat nun den Schritt unternommen, mehr solcher Bäume zu schützen, indem sie einen Nationalerbe-Status einführt. Ein beeindruckendes Beispiel dafür ist eine Edelkastanie im Aachener Stadtteil, die nun als Nummer 43 in diese Liste aufgenommen wird.
Der Weg zu diesem Baum ist abseits der Hauptstraßen und findet sich hinter Wiesen und Schafherden. Silke Bosse, die die Wiese mit der alten Edelkastanie bewirtschaftet, könnte stundenlang Geschichten über diesen Baum erzählen. „Die Leute hier nannten ihn früher Bratkastanie, da man die Früchte angeblich nur gekocht essen konnte“, so Bosse. In Wirklichkeit habe sie selbst auch die rohen Kastanien probiert.
Die Bedeutung des Nationalerbes
Der Baum, der wahrscheinlich etwa 450 Jahre alt ist, wird im kommenden Oktober offiziell als Nationalerbe-Baum anerkannt. Bei der Feier wird Andreas Roloff, ein anerkanntes Mitglied der Deutschen Dendrologischen Gesellschaft, sprechen. Roloff ist der Kopf hinter der Nationalerbe-Idee und erzählt, dass er während Reisen in England viele tausend Jahre alte Bäume sah, was ihn dazu brachte, die Situation der alten Bäume in Deutschland zu hinterfragen.
„In Deutschland behindern vor allem übergeneröse Sicherheitsvorkehrungen das reife Wachstum der Bäume“, erklärt Roloff. Wo in England ein gewisses Maß an Nachsicht gegeben ist, wird in Deutschland oft zu schnell eingegriffen, was die Bäume in einen Kreislauf von Stress und Ungesundheit führt. Roloff warnt davor, dass Bäume durch unsachgemäße Pflege, wie dem übermäßigen Abtrennen von Ästen, in ihrer Lebensqualität und letztendlich ihrer Lebensdauer stark beeinträchtigt werden können.
Roloff veröffentlichte 2019 seine Erkenntnisse in einer Fachzeitschrift und empfahl, Strategien zu entwickeln, um Bäume mit dem Potenzial für ein hohes Alter nachhaltig zu schützen. Er machte auch auf die immense Bedeutung eines einzelnen alten Baumes aufmerksam, der in der Lage ist, so viel zur Verbesserung des Klimas und zur Regulierung des Wasserkreislaufs beizutragen, dass es nötig wäre, 400 junge Bäume zu pflanzen, um ihn zu ersetzen.
Ein große Unterstützung erhielt Roloff von der Eva-Mayr-Stihl-Stiftung, die Interesse an der Umsetzung seiner Pläne zeigte. Im Jahr 2019 wurde der erste Nationalerbe-Baum, eine Riesenlinde aus dem Emsland, ausgerufen, gefolgt von weiteren Bäumen, die von den Bürgern als wichtig für ihre Gemeinschaften geschätzt wurden.
Die Familie Landree aus Bierde bei Minden hat es beispielsweise geschafft, eine alte Flatterulme zu schützen, die weitere 500 Jahre überdauern soll. „Diese Bäume haben oft Geschichten zu erzählen, die für unsere Region von erheblicher Bedeutung sind“, so Roloff.
Anders ist die Situation mit der Aachener Edelkastanie. Während viele alte Bäume bereits bekannt sind, war dieser Baum fast ein Geheimtipp. Christoph Michels, ein Forstingenieur, machte mit seinem Buch „Starke Bäume in Nordrhein-Westfalen“ auf die Kastanie aufmerksam. Heute ist er sich sicher, dass es nicht ausgeschlossen ist, dass die Edelkastanie bis zu Karl dem Großen zurückgeht, der die Anpflanzung von Esskastanien zur Verbesserung der Ernährung anordnete.
Die Edelkastanie selbst hat eine eindrucksvolle Geschichte: Trotz Blitzeinschlägen ist sie hohl, was ihrer Stabilität keinen Abbruch tut. Silke Bosse sagt mit einem Schmunzeln: „Auf einem der Äste wurden schon viele Kindergeburtstage gefeiert.“ Mit der Ehrung als Nationalerbe-Baum wird nun die Würde dieser alten Kastanie in den Mittelpunkt gerückt.