Fünf Jahre nach einer gefühlten Schande, die durch die kontroversen Bemerkungen einer Erbin des traditionsreichen Gebäckherstellers Bahlsen, Verena Bahlsen, ausgelöst wurde, hat eine neue Studie die dunkle Vergangenheit des Unternehmens während der NS-Zeit ans Licht gebracht. Im Jahr 2019 sorgte sie mit der Aussage für Aufregung, dass Zwangsarbeiter bei Bahlsen „gut behandelt“ worden seien, was rund um den Firmenname für viel Empörung und Kritik führte. Ihre anschließende Entschuldigung kam zu spät, um den Schatten zu vertreiben, der über dem Familienunternehmen lag.
Die öffentliche Debatte hat dazu beigetragen, dass sich die Familie Bahlsen intensiv mit den belastenden Aspekten ihrer Unternehmensgeschichte auseinandersetzte. In einer offiziellen Stellungnahme gab die Familie zu, dass viele Details aus der Unternehmensgeschichte unbekannt gewesen seien und dass sie in der Vergangenheit nicht nachgefragt hätten. Um die verzweifelte Suche nach Antworten zu unterstützen, wurden die Historiker Manfred Grieger und Hartmut Berghoff mit der Erstellung einer tiefgreifenden Untersuchung beauftragt. Ein Ergebnis davon ist ein 600 Seiten starkes Buch mit dem Titel „Die Geschichte des Hauses Bahlsen“, das sich umfassend mit der Zeit von 1911 bis 1974 beschäftigt.
Bahlsen und die Zwangsarbeiter
Die Auswertung dieser Studie bringt schockierende Fakten ans Licht. Bahlsen war eng mit dem nationalsozialistischen Regime verwoben und profitierte erheblich von der Praxis der Zwangsarbeit. Von 1940 bis 1945 arbeiteten mehr als 800 ausländische Arbeitskräfte in Zwangsarbeit für das Unternehmen. Die Mehrheit dieser Arbeiter waren Frauen und stammten hauptsächlich aus Polen und der Ukraine. Die diskriminierenden Maßnahmen, unter denen die Zwangsarbeiter litten, waren nicht nur brutale Realität, sondern auch ein direktes Resultat der rassistischen Ideologie des Regimes, wie die Studie klar macht.
Besonders verstörend ist die Tatsache, dass diese Frauen gezwungen waren, ein violett-gelbes P-Zeichen auf ihren Kleidern zu tragen. Diese Kennzeichnung machte sie als Personen erkennbar, die dem rassistischen Stigma unterlagen. Durch die Zwangsarbeit waren die Bedingungen unerträglich: Geringschätzung in Form von zu niedrigem Lohn, unzureichender medizinischer Versorgung und beschränkten Lebensmittelrationen waren an der Tagesordnung. Darüber hinaus waren die Arbeiterinnen in Baracken untergebracht, vom öffentlichen Leben ausgeschlossen und hatten keinen sozialen Kontakt zu deutschen Bürgern, was die Isolation nur verschärfte.
Die Verantwortung von Bahlsen
Das Unternehmen hat nun zugegeben, dass die Zwangsarbeiter, die für Bahlsen arbeiteten, unter unmenschlichen Bedingungen leben mussten. Soziale Kontakte zu den Deutschen waren strikt verboten, und Polinnen und Polen kamen nicht ungestraft davon, wenn sie gegen die strengen Vorschriften verstießen. Polnische Männer, die unter dem Verdacht standen, sexuelle Beziehungen zu deutschen Frauen zu haben, mussten sogar mit dem Tod rechnen.
In ihrer Stellungnahme hat die Bahlsen-Familie betont, wie unbequem und schmerzhaft die Wahrheit über die eigene Unternehmensgeschichte sei. Sie drücken ihr tiefes Bedauern über das erlittene Unrecht aus und gestehen ein, dass sie sich dieser schwierigen Realität nicht früher angenommen haben. Um die historische Wahrheit zu wahren, wurde das Unternehmensarchiv erstmals vollständig für die wissenschaftliche Forschung geöffnet. Trotz der großzügigen Finanzierung blieb Bahlsen inhaltlich neutral und hat den Historikern die vollständige Freiheit während ihrer Recherchen überlassen.
Über Jahrzehnte hinweg wurde die Erinnerung an die Zwangsarbeit innerhalb des Unternehmens auf eine weichgespülte Erzählung beschränkt, die von einem gemeinsamen Überstehen der schweren Zeiten sprach. Heute jedoch ist es für Bahlsen von zentraler Bedeutung, sich zu seiner Geschichte zu bekennen. Eine prägnante Aussage, die im Foyer des Stammhauses zu lesen ist, lautet: „Es ist an uns, diese Erinnerung wachzuhalten und dafür zu sorgen, dass sich diese Geschichte des Nationalsozialismus niemals wiederholt.“ Damit zeigt das Unternehmen, dass es bereit ist, Verantwortung für die eigene belastende Vergangenheit zu übernehmen und die grausamen Aspekte der Geschichte nicht länger zu verschweigen.
Die Lehre aus der Geschichte
Die Studie und die damit verbundenen Enthüllungen sind ein starkes Zeichen, dass Unternehmen sich ernsthaft mit ihrer Geschichte auseinander setzen müssen, um nicht nur die Wahrheit zu erkennen, sondern auch die Verantwortung für vergangenes Unrecht zu übernehmen. Schließlich zeigt sich hier, dass der Umgang mit der dunklen Vergangenheit entscheidend dafür ist, wie die Zukunft gestaltet wird. Das Unternehmen Bahlsen steht nun vor der Herausforderung, diese Lehren in die Praxis umzusetzen und sicherzustellen, dass solche Gräueltaten niemals wiederholt werden.
Die Rolle von Zwangsarbeit in der deutschen Wirtschaft
Zwangsarbeit war ein zentrales Element der deutschen Wirtschaft während der NS-Zeit. Zehntausende von Frauen und Männern wurden unter Gewalt und Drohung zur Arbeit gezwungen, um die Landeswirtschaft am Laufen zu halten. Schätzungen zufolge waren zwischen 1939 und 1945 rund 7 bis 10 Millionen Zwangsarbeiter in Deutschland beschäftigt. Die Systematik hinter der Zwangsarbeit war brutal: Menschen wurden aus den besetzten Gebieten nach Deutschland gebracht und oft unter katastrophalen Bedingungen gehalten. Firmen wie Bahlsen profitierten von dieser Praxis, indem sie ihre Produktionskapazitäten ohne die eigentlichen Kosten für Arbeitskräfte erweiterten.
Die Praktiken dieses Systems zeugen nicht nur von den moralischen Verfehlungen der Zeit, sondern stellen auch die Nachhaltigkeit der damaligen Wirtschaftspraktiken in Frage. Viele Unternehmen setzten auf Zwangsarbeit, um die Gewinne während des Krieges zu maximieren, was langfristig zu moralischen und rechtlichen Konsequenzen führte, als die Verstrickungen in die Verbrechen des Nationalsozialismus aufgedeckt wurden. Damals wie heute bleibt die Frage, wie Unternehmen sich zu ihrer Geschichte verhalten und welche Verantwortung sie gegenüber den Opfern übernehmen, relevant.
Zeitzeugen und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit
Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist eine komplexe und oft emotional aufgeladene Angelegenheit. In den letzten Jahrzehnten haben zahlreiche Zeitzeugenberichte dazu beigetragen, die schrecklichen Erfahrungen und das leidvolle Schicksal der Zwangsarbeiter sichtbar zu machen. Organisationen wie das Deutsche Rote Kreuz und die Stiftung Erinnerung, Verantwortung und Zukunft setzen sich aktiv dafür ein, die Geschichten der Betroffenen zu sammeln und öffentlich zu machen. Diese Zeitzeugenberichte sind von unschätzbarem Wert, um die oft vergessenen Geschichten zu dokumentieren und das öffentliche Bewusstsein über die Gräueltaten des NS-Regimes zu schärfen.
Zugleich hat die gesellschaftliche Diskussion darüber, wie die Rolle von Unternehmen im Nationalsozialismus in Schulbildung und Medien dargestellt wird, an Fahrt gewonnen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist für viele Firmen eine Herausforderung, jedoch auch eine Chance zur Wiedergutmachung. Die Bahlsen-Familie hat sich diese Herausforderung angenommen, indem sie ihre Unternehmensgeschichte offenlegte und sich der unbequemen Wahrheit stellte. Diese Transparenz kann als Vorbild für andere Unternehmen dienen, die sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen müssen.
Auswirkungen auf die heutige Unternehmenspolitik
Die Erkenntnisse aus der Bahlsen-Studie werfen auch wichtige Fragen für die heutige Unternehmenspolitik auf. Indem sich Unternehmen der Vergangenheit stellen, übernehmen sie Verantwortung und zeigen, dass sie aus der Geschichte lernen wollen. Dies ist besonders wichtig in einer Zeit, in der soziale Gerechtigkeit und ethisches Handeln immer mehr in den Vordergrund rücken. Verbraucher fordern zunehmend von Unternehmen, dass sie sich nicht nur auf ihre Gewinnmaximierung konzentrieren, sondern auch soziale und Umweltstandards einhalten.
Die Bahlsen-Familie hat bekräftigt, dass sie sich dieser Verantwortung bewusst ist und es sich zur Aufgabe gemacht hat, die dunkle Geschichte des Unternehmens aufzuarbeiten. Die IHK (Industrie- und Handelskammer) hat ähnliche Initiativen unterstützt, um Unternehmen dabei zu helfen, ihre Vergangenheit zu beleuchten und sich für eine bessere Zukunft einzusetzen. Auf diese Weise können Firmen effektive Maßnahmen zur Förderung von Diversität und Chancengleichheit entwickeln, die auf einer ehrlichen und transparenten Auseinandersetzung mit der Geschichte basieren.
– NAG